Besuch bei einem Sterbenden

Erinnerung an Adrian

„Daheim sein zu können, ist das Größte für mich“

Fünf Jahre ist es her, dass ich Adrian kurz vor seinem Tod besuchen und mit ihm über das Sterben sprechen durfte. Der junge Familienvater war ein tapferer Kämpfer, der seinem Ende ganz bewusst entgegen schaute. Nicht unerschrocken, aber tapfer. Wir kannten uns nicht und doch hat die Nähe des Todes große Vertrautheit zwischen uns hergestellt. In der Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit rückt das wirklich Wichtige in den Vordergrund.

Sehr schmal und sehr blass saß er damals auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer – mit Blick in den kleinen Garten und mittendrin im Familienleben, das sich weiter um ihn herum abspielte – ganz so als wäre nichts. Der älteste Sohn saß noch beim Frühstück, eine Freundin verabschiedete sich mit einer innigen Umarmung – vielleicht zum letzten Mal – und  Adrians Frau erledigte ihren Haushalt, während sie immer wieder den Kopf zur Tür hereinsteckte und nach ihm schaute .

      Leben im Ausnahmezustand

Die Situation hatte fast etwas von Normalität, aber „normal ist hier gar nichts mehr,“ erklärte Adrian mit  bitteren Unterton. „Wir leben im Ausnahmezustand.“  Es ist nicht leicht und alles andere als „normal“ über das eigene Sterben zu sprechen, vor allem dann, wenn es nicht mehr abstrakt und weit entfernt ist. „ Wir reden nicht mehr von Monaten oder Wochen, die mir noch bleiben. Inzwischen müssen wir in Tagen denken.“ Das hatte er auch seinen drei Söhnen gesagt, den 18-jährigen Zwillingen und dem „Großen“, dem 20-Jährigen. „Das war schlimm.“  Noch allerdings war Adrian nicht eingeschwenkt  auf die „letzte Schußfahrt“ seines Lebens, wie er die Sterbephase im Gespräch nannte. Aber, um im Bild zu bleiben: Seit der Diagnose „Blasenkrebs“ hatte er schon so einige schwarze Abfahrten nehmen müssen. Immer wieder standen schwere Operationen an.  Dazu kamen Chemo- und Strahlentherapien mit allen nur vorstellbaren Nebenwirkungen. Er habe nichts ausgelassen, sagte der 46-jährige System-Informatiker, aber jetzt, das wisse er, käme der letzte Teil der Strecke.

Aufgegeben haben er und seine Ärzte dennoch nie. Denn gerade in dieser Situation, kann man noch sehr viel und vor allem Wichtiges für einen Menschen tun.

      Palliativmedizin als „Letzte Hilfe“

Als wir uns trafen, wurde Adrian schon vom ambulanten Palliativdienst engmaschig betreut und das hat damals nicht nur vieles vereinfacht, sondern ihm auch ermöglicht, über lange Phasen zuhause bei seiner Familie zu bleiben.  „Und daheim zu sein, ist das Größte für mich,“ erklärte Adrian . In diesem Augenblick blitzten für einen Augenblick die Zuversicht und Kraft durch, mit der er die letzten Jahre  durchgestanden hatte. „Ich war immer zuversichtlich und habe lange geglaubt: Aus der Nummer kommst Du wieder raus. Aber seit einiger Zeit weiß ich, dass es für mich keine Zukunft mehr gibt.“

Beim ersten Kontakt mit seiner betreuenden Palliativärztin  hatte ihn der Begriff „palliativ“ noch erschreckt. „Da denkt man an Todesstation und damals schien das alles noch so weit weg. Vor meiner letzten OP hat mein Operateur mich dann aber doch ermutigt, das Thema nicht länger vor mir herzuschieben.“

Palliativärzte haben eine besondere Brückenfunktion. Sie sind Vermittler an der Schnittstelle der verschiedenen Bereiche. Sie beraten und begleiten Patienten im Krankenhaus, aber auch im Hospiz, auf der Palliativstation und im ambulanten Dienst  – immer in enger Zusammenarbeit mit Pflegekräften, Klinik- und Hausärzten.

       Hilfe auch für Angehörige

Auch für Adrians Familie war die palliative Begleitung wertvoll und wichtig. „An manchen Tagen geht es bei uns zu wie in einer Achterbahn. Ohne Unterstützung wäre da die Pflege zuhause gar nicht möglich, da wären wir alle überfordert“  sagte Frau Rheinländer damals. Sie war immer häufiger an ihre Grenzen geraten und fand Erleichterung darin, dass Ärztin und Hospizschwester auch für sie und die Kinder da waren. „Mit ihnen kann man über alles reden, die nehmen sich immer Zeit.“ 

Reden ist wichtig, sagen Palliativmediziner. Reden und Zuhören – nur so können die Ärzte und Pflegekräfte erfahren, was den Patienten und die Angehörigen tatsächlich bewegt.

       „Total pain“ – ein allumfassender Schmerz

In der modernen Hospizbewegung gibt es den Begriff des „total pain“. Das bedeutet, dass Schmerz für den Sterbenden nicht nur etwas Körperliches ist, sondern alle Lebensbereiche umfasst: Seelischen Schmerz, existentielle Nöte  oder auch die Frage: was bleibt von mir? In der Palliativmedizin  gehört das alles zusammen. Körperliche Schmerzen können tatsächlich nur dann effektiv behandelt werden, wenn auch das Psychische, das Soziale, das Spirituelle Berücksichtigung finden.

Ich erinnere mich, wie Adrian mit sich kämpfte, als er darüber sprach, was ihn wirklich quälte: „Es ist das „wie“, das mich vor allem beschäftigt – wie werde ich sterben? Ich habe Angst, dass mir die Kontrolle entgleitet und ich bei Bewusstsein erlebe, dass andere Menschen Dinge für mich tun müssen, die ich ihnen aber nicht zumuten mag. Ich habe während meiner ganzen Krankheit nie an Selbstmord gedacht, weil da immer noch Kampfgeist und Optimismus waren. Aber auf der letzten Schussfahrt…

Auch darüber hatte Adrian mit seiner Palliativärztin ausführlich gesprochen.  „Ich darf Sie nicht töten,“ hatte diese ihm gesagt, „aber ich darf Sie sterben lassen. Und es ist unsere Aufgabe und Pflicht, Sie zu begleiten und alles, was Sie als Leid empfinden, zu lindern.“

Die Gewissheit also, dass er auf seiner „letzten Abfahrt“ nicht alleine ist, so hat Adrian mir gesagt, habe ihm Kraft, Vertrauen und auch wieder Mut gegeben.

     Leben bis zuletzt

Diese umfangreiche und kostenintensive Palliativbegleitung auf Dauer sicherzustellen, hat sich die Mainzer Palliativstiftung – Leben bis zuletzt  zur Aufgabe gemacht. Sie will die bestmögliche Betreuung und Begleitung schwerstkranker Patienten sicherstellen – auch außerhalb der Palliativstation.

Das beinhaltet auch die Beratung und Schulung von Klinik-, Hausärzten sowie Pflegepersonal, um ihnen das Werkzeug an die Hand zu geben, das es braucht, Patienten ein Sterben in Würde und weitgehender Beschwerdefreiheit zu ermöglichen, aber vor allem: Leben – bis zuletzt.

Adrian hat bis zuletzt gelebt, mit seinen Söhnen Video-Spiele gespielt, laut Musik gehört, zum Abschied mit Freunden noch ein Glas Sekt getrunken – das alles auf der Palliativstation der Universitätsmedizin in Mainz. Er war umgeben von seiner Familie als er friedlich und ohne Schmerzen starb.